Warum es so schwer ist, Grenzen zu setzen und was unser Nervensystem damit zu tun hat

Grenzen setzen: Zwischen Selbstfürsorge und altem Druck

Wir alle kennen Situationen, in denen wir eigentlich Grenzen setzen möchten – und es trotzdem nicht tun. Weil wir niemanden enttäuschen wollen, weil wir uns verantwortlich fühlen oder weil uns schlicht die Kraft fehlt.

Grenzen setzen – das neue Symbol für Selbstfürsorge.
Die moderne Mutter soll sich kümmern, aber nicht zu viel. Empathisch sein, aber Grenzen setzen. Für andere da sein – und gleichzeitig sich selbst nicht verlieren.

Wir sagen uns immer wieder: „Wir dürfen Grenzen setzen. Wir müssen nicht alles mittragen.“ Und trotzdem erleben wir es täglich, dass es leichter gesagt als getan ist.

Denn oft fühlt sich das Grenzen setzen an wie ein innerer Widerspruch – ein Riss zwischen dem, was wir brauchen, und dem, was wir gelernt haben zu brauchen. Vielleicht geht es also gar nicht nur darum zu wissen, dass wir Grenzen setzen dürfen. Sondern darum, in unserem Körper zu spüren, dass wir es dürfen.

Was unser Nervensystem mit dem Grenzen setzen zu tun hat

Oft denken wir bei unserem Nervensystem an Reflexe oder Stressreaktionen. Aber es ist viel mehr als das. Unser autonomes Nervensystem – also der Teil, den wir nicht bewusst steuern – ist eng mit unserer Fähigkeit verbunden, uns in sozialen Situationen sicher oder bedroht zu fühlen.

Die Polyvagal-Theorie von Stephen Porges (The Polyvagal Theory: Neurophysiological Foundations of Emotions, Attachment, Communication, Self-Regulation (2011)) bietet hier einen wichtigen Schlüssel. Sie beschreibt, dass unser Nervensystem in sozialen Kontexten permanent überprüft:
Bin ich hier sicher? Oder muss ich mich schützen?
Diese Bewertung geschieht unterbewusst – über Mimik, Tonfall, Körpersprache, Atmosphäre – ein Prozess, den Porges „Neurozeption“ nennt.

Und je nach Einschätzung aktiviert unser Körper eine von drei Reaktionen:

  1. Ventrale Vagus-Aktivierung – der Zustand sozialer Sicherheit.
    Wir fühlen uns ruhig, präsent, verbunden. In diesem Zustand können wir reflektieren, kommunizieren, auch Grenzen setzen – ohne Angst.

  2. Sympathische Aktivierung – der Alarmzustand.
    Unser Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Herzschlag steigt, Muskeln spannen sich, Gedanken werden eng. Kommunikation wird schwerer.

  3. Dorsale Vagus-Aktivierung – Shutdown oder Erstarrung.
    Wenn keine Flucht möglich scheint, ziehen wir uns innerlich zurück. Wir fühlen uns taub, überfordert, handlungsunfähig. Auch das ist ein Schutz – aber einer, der uns von uns selbst entfernt.

Diese Reaktionen sind nicht willentlich steuerbar. Sie sind evolutionär angelegt – und tief geprägt durch unsere Lebensgeschichte. Wenn wir also als Kinder gelernt haben, dass es sicherer ist, zu gefallen, zu vermeiden oder uns zurückzunehmen, speichert unser Nervensystem diese Strategie als „überlebenswichtig“. Auch dann noch, wenn wir längst erwachsen sind – und eigentlich Grenzen setzen möchten, es aber nicht können.

Grenzen setzen - Was weibliche Sozialisation damit zu tun hat

Viele Frauen – und besonders Mütter – tragen ein unausgesprochenes Rollenbild in sich: “Ich bin dann wertvoll, wenn ich für andere da bin.”

Carol Gilligan, US-amerikanische Psychologin, spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ethik der Fürsorge“, die Mädchen oft schon früh verinnerlichen (In a Different Voice: Psychological Theory and Women’s Development (1982)).
In dieser Ethik geht es nicht in erster Linie um Gerechtigkeit oder Selbstbestimmung – sondern um Beziehung, Harmonie, Rücksichtnahme.

Wenn wir dann zu Müttern werden, verschärft sich dieses Spannungsfeld oft.
Kinder brauchen Nähe, Regulation, Sicherheit – und wir geben sie ihnen mit ganzem Herzen.
Doch viele von uns haben nie gelernt, dass wir auch Nähe zu uns selbst brauchen.
Dass wir nicht nur gebend, sondern auch spürend sein dürfen.

Und so entsteht ein innerer Widerspruch:

  • Der Kopf sagt: Du darfst Grenzen setzen.

  • Der Körper sagt: Tu das besser nicht – es könnte Bindung kosten.

Warum der neue Druck, Grenzen zu setzen, uns zusätzlich belastet

Selbstfürsorge wird heute stark thematisiert – was wichtig und richtig ist.
Aber manchmal kippt sie in ein neues Ideal: „Eine gute Mutter kennt ihre Grenzen. Eine gute Mutter kann diese setzen.“

Aber was, wenn uns nie jemand gezeigt hat, wie das geht?
Was, wenn das Grenzen setzen nicht einfach eine Entscheidung ist – sondern eine körperliche Überforderung?
Was, wenn unser System in genau dem Moment, in dem wir uns abgrenzen wollen, in den Stress kippt?

Deb Dana, eine Therapeutin, die mit der Polyvagal-Theorie arbeitet, sagt:

„Bevor wir unser Verhalten ändern, müssen wir verstehen, in welchem Zustand wir gerade sind.“ (Anchored: How to Befriend Your Nervous System Using Polyvagal Theory (2021))

Und manchmal ist das Grenzen setzen nicht möglich – nicht weil wir unfähig sind, sondern weil unser Körper gerade auf „Schutzmodus“ umschaltet.
Dann ist nicht das Abgrenzen die erste Übung, sondern das Spüren.
→ Wo bin ich gerade in meinem Körper?
→ Fühle ich mich sicher – oder unter Druck?
→ Was würde mir in diesem Moment helfen, präsent zu bleiben?

Grenzen setzen –Ein sanfterer Weg zurück zu uns selbst

Selbstbehauptung beginnt nicht im Kopf. Sie beginnt im Nervensystem – in kleinen Momenten der Wahrnehmung.

Nicht: „Ich muss jetzt mutiger sein.“
Sondern: „Ich darf lernen, mich sicher zu fühlen, wenn ich mich zeige.“

Denn neue Handlungsmöglichkeiten entstehen nicht durch Willenskraft allein.
Wenn unser Körper noch auf alte Erfahrungen programmiert ist, braucht es zuerst etwas anderes: Sicherheit. Vertrauen. Zeit.

Und genau diese Sicherheit beginnt oft im Kleinen:

  • In einem bewussten Atemzug.

  • In einem Kontakt, der sich bedingungslos anfühlt.

  • In einem Moment, in dem wir spüren: Ich darf da sein – ohne leisten zu müssen.

Wenn wir solche Erfahrungen wieder und wieder machen, kann etwas in uns langsam umschalten. Dann wird das Grenzen setzen nicht zur Pflicht – sondern zu einer Möglichkeit. Einer, die aus Verbindung kommt, nicht aus Abgrenzung.

Vielleicht ein neuer Blick auf das Grenzen setzen

Wenn du also das nächste Mal das Gefühl hast, du solltest doch Grenzen setzen, aber es gelingt dir nicht:
Halte kurz inne. Nicht, um dich zu verurteilen. Sondern um zu fragen:

Was brauche ich gerade, um mich sicher zu fühlen?

Manchmal ist das klare Grenzen setzen noch zu viel.
Dann ist vielleicht ein leises „Ich überlege es mir“ genug.
Oder einfach ein bewusster Atemzug, der dich wieder mit dir verbindet.

Das ist kein Scheitern.
Das ist der erste Schritt zu einem echten Grenzen setzen – aus dir heraus.
Nicht aus Druck. Sondern aus Verbindung.

Grenzen zu setzen ist ein Weg – und manchmal brauchen wir Menschen, die ihn mit uns gehen.
Unsere Community Millie & Me ist ein Ort für echte Verbindung: gemeinsam, miteinander, füreinander.

Wenn du dich nach Austausch, Unterstützung und einem sicheren Raum sehnst:
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📌 Ein Wort zur Wissenschaftlichkeit

Die Polyvagal-Theorie ist ein Erklärungsmodell – kein medizinischer Fakt im engen Sinn.
Sie wird zunehmend erforscht, ist aber in manchen Bereichen noch nicht empirisch belegt. Sie bietet dennoch einen hilfreichen Rahmen, um körperliche Reaktionen besser zu verstehen – vor allem in traumasensiblen, therapeutischen und beziehungsorientierten Kontexten.

Als Autorin in diesem Feld ist es mir wichtig, Theorien wie diese nicht als „Wahrheit“ zu präsentieren, sondern als Einladung, den eigenen Erfahrungen einen neuen Zusammenhang zu geben – mit Neugier, nicht mit Dogma.

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